Stimmen und Wege
“Sie tauchen tiefer und tiefer in ihr Unterbewusstsein, solange bis sie einen Weg vor sich erkennen können…”, mit ruhiger Stimme sprach der Mann mit den graumelierten Haaren zu der blonden jungen Frau, die ihm gegenüber in einem rotsamtenen Sessel Platz genommen hatte.
“Können Sie einen Weg erkennen?”
“Ich sehe einen langen, hellen Gang vor mir. Viele Türen an den Seiten. Unterschiedliche Formen, Farben und Größen”
“Folgen Sie dem Gang. Frei und ohne Angst. Sie wissen, welche Tür Sie zu den immer wiederkehrenden Bildern und Stimmen in Ihrem Kopf führt. Gehen Sie zu dieser Tür”, die ruhige Stimme des Mannes echote im Kopf der Frau.
“Ich gehe den Gang entlang. Alles ist hell und freundlich. Alles in mir ist ruhig. Ich muss noch weiter gehen. Es ist eine Tür aus hellem, versteinertem Holz.”
Entspannt lehnte sich der Mann in seinen modernen Ledersessel zurück und wartete.
“Da ist die Tür”, unruhig wanderten die Pupillen unter den Lidern der Frau hin und her. Sie pausierte.
“Sie öffnet sich…., einfach so….ich habe sie nicht berührt”, die Stimme der Frau zitterte ein wenig.
“Sie fühlen sich frei und ohne Angst. Nichts kann Ihnen geschehen”, der monotone Klang der Männerstimme schwebte im Raum.
“Ich sehe sie! Da sind sie wieder! Sie sehen aus, wie in meinen Träumen! Zwei Männer. Der Eine groß, der andere klein. Sie wandern…, sie wissen,…sind sind da um vor dem Vergessen zu schützen..sie bewahren die Magie…und doch ist da viel mehr…”, die Frau schien noch tiefer in den hypnotischen Schlaf zu sinken. Nach einer kurzen Pause, wurden die Sätze vollständiger:“Sie wandern durch Myriaden von Welten, und das für immer; doch das ist überhaupt nicht lang. Sie retten Legenden und Geschichten vor dem Vergessen; sie bringen die Poesie und die Magie zurück.
Gerade bewegen sie sich auf einer Ebene die mit Lavagestein bedeckt ist. Sie reden miteinandern ohne die Lippen zu bewegen, und ich kann ihre Gedanken hören.”
“Was hören Sie?”, fragte der Mann, der sich mittlerweile in seinem Sessel nach vorn gebeugt hatte, um besser zuhören zu können.
“Ich…..”, wieder zitterte die Frau und plötzlich fuhr sie in einer männlichen Stimme fort:“Ich spüre, daß wir nun ihre Aufmerksamkeit erregt haben; es hat äußerst lange gedauert. Die Träume schienen sie nicht zu erreichen.”
Wieder veränderte sich die Stimme der Frau, in die eines anderen Mannes:“Bist Du dir sicher, daß sie uns verstehen wird?”
Wieder die dunklere Stimme:“Ich bitte Dich, mein Freund. Natürlich! Sie muß!”
“Es hängt viel davon ab”, entgegnete die Frau nun mit der anderen männlichen Stimme, “ich hoffe nur, sie kann dem Ruf folgen.”
“Eben in diesem Moment sind einige Mauern gefallen, sie benötigt nur noch einen kleinen Impuls”, die dunklere Stimme wirkte nachdenklich und konzentriert,“lass uns…..!”
Die Stille, die darauf folgte, war förmlich mit den Händen greifbar; bis………-
“WACH AUF!!!”, eine unsichtbare männliche Stimme, die weder der blonden Frau, noch dem schockierten Hypnotiseur gehörte, sauste durch das Zimmer wie ein Wirbelwind!
Ruckartig öffnete die Frau ihre Augen, lächelte und richtete sich auf.
Der Mann im Sessel sprang erschrocken auf:“Um Gottes willen! Setzen Sie sich bitte wieder! Die Hypnose…man kann nicht….!”
Ruhig und gefasst erwiderte die Frau:“Ich danke Ihnen! Sie haben mir sehr geholfen!”
Sie griff nach ihrer Tasche und dem Mantel und verließ das Zimmer.
Zunächst war der Hypnotiseur versucht ihr nachzulaufen und sie festzuhalten, doch unsichtbare Fäden schienen ihn zurück in seinen Sessel zu ziehen. Dort saß er eine Weile mit verklärtem, abwesendem Blick.
Dann massierte er seine Schläfen und fragte sich, wo die vergangene Stunde geblieben war.
Mechanisch betätigte er schließlich den Knopf seiner Sprechanlage:“Der Nächste, bitte!”
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Die blonde Frau eilte auf die Straße. Eine freudige Erwartung hatte sich ihrer bemächtigt. So, als habe sie eine unsichtbare Hülle abgestreift, die sie von ihrem eigentlichen Leben getrennt hatte.
Eine große Kraft sog sie auf ein Ziel zu, das sie nicht einmal erahnen konnte….
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Zwei Wanderer saßen auf großen Lavasteinen. In unregelmäßigen Abständen explodierten Geysire in der ansonsten völlig stillen Landschaft. Der kleine Wanderer öffnete seine Augen:“Die Botschaft ist angekommen!”, sagte er zu seinem großen Gefährten und der lächelte erfreut.
“Doch noch ist es nicht vollbracht. Ich muß sie weiterhin im Auge behalten, um ihr den richtigen Weg zu weisen”, wieder schloß der Kleine die Augen und konzentrierte sich.
Und der Große tat es ihm gleich.
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Schon seit einiger Zeit eilte die Frau durch ihr unbekannte Straßen. Unbeirrt folgte sie einem Gefühl, das manchmal einer fernen Stimme ähnelte.
Langsam wurden die Straßen auf denen sie sich bewegte immer kleiner, wurden zu Gassen, dann zu Gäßchen.
In einem dieser Gäßchen blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte auf ein schlecht beleuchtetes Fenster. Sie war angekommen.
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Auf einem schwarzen Felsen aus geschmolzener Lava atmete eine kleine Gestalt mit geschlossenen Augen beinahe unhörbar auf.
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Langsam trat die Frau auf das Fenster zu und las dessen verschnörkelte Aufschrift: „Antiquitätenhandel (seit 1850)“
Ein exotisches Windspiel erklang, als sie die Tür öffnete und eintrat.
„Komme gleich!“, eine mürrische Stimme meldete sich aus einem unsichtbaren Hinterzimmer.
Die Frau blickte sich suchend um; irgendwo hier in diesem schummrigen, staubigen Laden mußte „ES“ sein. Ihr Herz schlug heftig und sie erschrak, als eine kleine Hand sie an der Hüfte berührte:
„Opa kommt gleich!“, sagte ein etwa 6jähriges Mädchen.
„Hast Du mich aber erschreckt!“, sagte die Frau.
„Du suchst etwas, nicht wahr?!“, fragte das Mädchen mit wachen Augen.
„Ja. Das tue ich. Ich kann nur nicht genau sagen, was es ist. Aber woher weißt Du das?“
„Opa sagte, jeder der hierherkommt sucht etwas“, antwortete das Mädchen schlicht.
„Ich suche etwas sehr Besonderes“, erwiderte die Frau.
Abfällig erklang die knarzende Stimme hinter ihr:“Jeder der hierherkommt, behauptet, er suche etwas Besonderes!“
Die Frau wandte sich um und stand vor einem kleinen, vertrocknet wirkenden Männchen in einem ausgefransten Bademantel.
„Geh bitte hinein!“, sagte das Männlein zu dem Kind und das Mädchen verschwand im Inneren des Ladens.
„Was wollen Sie denn nun BESONDERES? Geht es um Leben und Tod? Die Rettung einer Welt? Oder sonst irgendeinen ach-so-wichtigen Kram?“, fragte der Alte ungehalten.
„Ich…..“, begann die Frau und unterbrach sich im gleichen Augenblick, als sie hinter dem Rücken des Alten, in einer dunklen Ecke einen leichten Schimmer wahrnahm.
Ohne weiter nachzudenken, wies sie an dem Alten vorbei auf die Stelle:“Deswegen bin ich hier.“
Der Alte wandte sich um:“Was?“
„Na, DAS was da so schimmert“, die Frau eilte auf das beschriebene Objekt zu.
„DAS?!“, der Alte stieß sie unwirsch beiseite und hob, mit sichtlicher Mühe, ein weißes, etwa 50cm hohes Gebilde aus einem Haufen Gerümpel.
Er stellte es auf einen großen Tisch und starrte die Frau durchdringend an:“Für das da müssen Sie….“, er verstummte und schien mehr zu lauschen als zu überlegen.
„Nehmen Sie es und verschwinden Sie!“, sagte er schließlich.
Fassungslos starrte die Frau den Alten an. Dann lächelte sie und berührte das Gebilde zum ersten Mal. Etwas Ähnliches hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen. Es fühlte sich „richtig“ an.
Es gehörte zu ihr.
Eine Art Stein, weiß, mit kleinen Poren. Die Form war jedoch äußerst ungewöhnlich. Weiche Dreiecke wuchsen zu runden Wellen, diese umschlossen weiße, kugelähnliche Gebilde. Und diese Gebilde wiederum schienen aus den Wellen zu wachsen.
Die Frau hob die Skulptur so mühelos hoch, als wiege diese nicht mehr als Luft. Dann eilte sie, ohne ein weiteres Wort aus dem Geschäft.
„Immer dasselbe mit den Auserwählten“, brummte der Alte und schlurfte mit den Worten:
„Kleines, soll Opa Dir Würstchen braten?!“ zurück in das unsichtbare Hinterzimmer.
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Auf einer weit entfernten Ebene, die mit schwarzer Lava bedeckt war, verzogen sich die Mundwinkel des kleinen Wanderers zu einem Lächeln.
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Die Frau konnte nicht sagen, wie sie nachhause gekommen war.
Jedesmal, wenn sie den schimmernden weißen Stein anschaute, schien ihr Herz vor Freude zu explodieren. Kurzentschlossen umarmte sie das Gebilde.
Eine leise Stimme schwang mit einem Mal durch den Raum:
“Er wird Dir helfen, Deinem Weg zu folgen und er wird Dir dabei helfen, anderen Menschen zu helfen, ebenfalls ihren ureigenen Weg zu finden.
Er wird Dir helfen, keine Hindernisse zu fürchten.
Wenn Du die Furcht nicht mehr fürchtest, so kannst Du alles erreichen, was Du willst!
Nutze seine Kraft für Dich und andere. Es ist Deine Aufgabe.“
Noch immer umarmte die Frau den Stein, ein seliges Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
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In einer anderen Welt schlug der kleine Wanderer die Augen auf und sprang von seinem Platz. Der große Wanderer öffnete ebenfalls seine Augen. Beide lächelten.
„Sie hat verstanden.“
Glücklich setzten die beiden Wanderer ihren Weg fort.
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