Der Mondstein
„Eine Geschichte offenbart sich mir. Seit einiger Zeit spüre ich, wie sie in meinen Gedanken Gestalt annimmt“, der große Wanderer hielt inne und blickte seinen kleinen Gefährten an.
Der kleine Wanderer erwiderte:“ Dann gehört diese Geschichte zu diesem Stück unseres Weges.“
Der große Wanderer begann zu erzählen:
„ In dieser Gegend gibt es ein Königreich. Und zu diesem Königreich gehören mehrere Fürstentümer. Sowohl der König als auch die Fürstendynastien sind mit vielen Nachkommen gesegnet. Als kürzlich die Prinzessin ins heiratsfähige Alter gekommen war, gab es eine beispiellose Abfolge gigantischer Festveranstaltungen, zu dem alle Fürstentöchter und Söhne im heiratsfähigen Alter ebenfalls eingeladen waren.
Besonders die Töchter der hohen Gesellschaft waren aufgeregt und wollten einen besonders guten Eindruck zu hinterlassen.
Auf dem ersten der Bälle nahm diese Geschichte ihren Anfang:
Kichernd hockten die Prinzessin und die Fürstentöchter beieinander und beäugten die ankommenden Bewerber.
„Oh, diese Hofvorschriften!! Ich werde vor Aufregung bestimmt kaum ein Wort herausbringen“, kicherte die Prinzessin verlegen.
„Meine Großmutter sagte, wenn ich einfach ich selbst und ganz natürlich sei, dann könne nichts schief gehen“, entgegnete eine der Fürstentöchter beruhigend.
Erstaunt und ein wenig verärgert, erwiderte eine Andere:“Wir halten uns an die vorgeschriebene Hof-und Balletikette. So wurde es schon immer gemacht. So hat man es uns beigebracht. Niemand möchte wissen, wie DU wirklich bist. Wo kämen wir denn da hin?! Nur reden, wenn man gefragt wird! Zurückhaltend und doch wortgewandt. Interessant und geheimnisvoll…- die rechteWirkung zur rechten Zeit!“
Die Sprecherin blickte beifallheischend in die Runde und die anderen murmelten zustimmend.
Als sie sah, dass die anderen Gefallen an ihren Worten fanden, fuhr sie fort:“ Ich gebe Dir einen guten Rat: wenn jemand weiß, dass Du einem der kleinsten hiesigen Fürstentümer entstammst, so rettest Du dich vor dieser Peinlichkeit, indem Du zeigst, dass Du deinen Provinzort verachtest und nach Höherem strebst.“
„Du weißt doch, wie man sich zu verhalten hat, damit man geachtet und beachtet wird“, ergänzte wiederum eine andere,“man hält sich an die Etikette und die Regeln.“
Die Fürstentochter, die zuerst gesprochen hatte, dachte an die Worte ihrer Großmutter und erwiderte nichts. Mit einem Mal fühlte sie sich allein. Ausgeschlossen.
So kam es, daß sie den ganzen Abend allein im Garten des Schlosses verbrachte und über die Äußerungen der anderen nachdachte, und darüber, was angeblich „richtig“ und „gewünscht“war.
Wann hatte man angefangen, verschiedene Menschen in eine einzige Form pressen zu wollen?
Gefiel ihr das?, fragte sie sich und sie spürte, daß das Gegenteil der Fall war.
Verwirrt und traurig, beschloß sie nach ihrer Rückkehr mit ihrer Großmutter zu sprechen.
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Die Fürstentochter saß bei ihrer Großmutter und hatte soeben ihre Erzählung beendet. Die Traurigkeit stand ihr immer noch ins Gesicht geschrieben.
Die Fürstin war eine weise Frau. Sie erwiderte lange nichts und blickte aus dem Fenster.
Schließlich sagte sie:“Tritt an das Fenster und sage mir, was Du siehst.“
Ihre Enkelin zuckte mit den Schultern, trat an das leicht geöffnete Fenster und sah hinaus:“Grüne Wiesen, hohe grüne Bäume, blühende Blumen und Sträucher. Ein paar Vögel…oh, und auch Rehe!“
„Und was riechst Du?“
„Flieder, Lavendel, Kräuter, die warme Luft….Was soll das, Oma?“
„Liebst Du unser kleines Fürstentum?“
„Ja, natürlich! Es ist mein Zuhause. Die Farben, der Duft…NATÜRLICH LIEBE ich all das hier!“
„Auch, wenn es für andere ein kleines, ordinäres Fürstentum ist?!“
„Das hat doch nichts zu bedeuten! Für MICH ist es besonders, es ist….“, die Fürstentochter verstummte.
„Wenn Du damit beginnst, dich für Deine Herkunft zu entschuldigen oder gar diese zu verleugnen, so verleugnest Du einen großen Teil deiner Selbst. Wenn Du dich den Vorstellungen der anderen anpasst, damit diese glücklich sind, so wirst Du unglücklich werden.
Du wirst dich verstellen, weil du akzeptiert werden möchtest. In deinem Inneren jedoch wirst Du stets unzufrieden sein. Dein Selbstwertgefühl wird von der Gunst anderer abhängig sein.
Du wirst ständig versuchen es allen Recht zu machen. Und mit der Zeit wird alles, was dich ausmacht, verschwunden sein…
Es ist so, als würde die Farbe ROT lieber GELB sein wollen. Nun, sage mir: Schämst Du dich für Dich und Deine Herkunft?“
Die Fürstentochter senkte den Kopf:“Auf dem Fest schämte ich mich für einen Moment…, ich fühlte mich so allein, so als würde ich nicht dazu gehören. Und ich möchte unbedingt dazugehören!“
Die alte Fürstin lächelte und strich ihrer Enkelin über den Kopf:“Begleite mich, ich denke, es ist an der Zeit, Dir etwas zu zeigen.“
Sie stand auf und zog einen alten Wandvorhang zur Seite. Dahinter kam eine bogenförmige Türöffnung zum Vorschein. Dieser Aufgang war der Fürstentochter noch nie zuvor aufgefallen.
Sie folgte ihrer Großmutter und sie stiegen eine steile, enge Steinstiege empor. Oben angekommen, zog die alte Fürstin einen großen verschnörkelten Schlüssel aus einer ihrer Rockfalten und öffnete eine schwere, eisenbeschlagene Eichentür.
„Also, hier war ich noch nie. Warum war ich noch nie hier?“
„Oh, aus gutem Grund. Du warst einfach noch nicht bereit. Ich denke aber, nun ist es an der Zeit“, die alte Frau trat zurück und gab den Blick auf einen schimmernden, hellen Stein frei, der auf einer Art schlichtem Altar in der Mitte des Turmzimmers stand.
Die Fürstentochter machte einen Schritt darauf zu und blickte ihre Großmutter fragend an.
Diese lächelte und sagte:“Dies ist der Mondstein. Meine Urgroßmutter gab ihm zumindest diesen Namen, weil er in der Dunkelheit ebenso silbrig leuchtet wie der Mond.
Niemand kennt sein wahres Alter und niemand kennt seinen Ursprung.
Als sei eine Perle zum Teil mit der Hülle eines Steines verschmolzen, obgleich jedoch alles aus dem gleichen Element entstanden ist. Du darfst ihn berühren. Aber vorher musst Du wissen: Er zeigt Dir dein Inneres Selbst.“
Die Fürstentochter zuckte erschrocken zurück und blickte unsicher auf den Stein hinab.
„Er ermöglicht es Dir, in deine Seele zu schauen und dich selbst zu erkennen. Ich verstehe, dass Du dich fürchtest. Vor Niemandem sollte man sich mehr fürchten, als vor sich selbst. Er wird Dir Deine Stärken und Schwächen zeigen. Mitunter wird dies schmerzlich sein. Wenn Du jedoch annehmen kannst, was er Dir zeigt, dann wirst Du DICH erkennen und deine innere Stärke wird wachsen“, mit diesen Worten wandte sich die alte Fürstin um und ließ ihre Enkelin allein zurück.
Die Fürstentochter wandte sich dem Stein zu und seufzte.
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Eine rauschende Ballnacht.
Zwischen im Gleichklang tanzenden Paaren, tanzt eine einzelne Person glücklich und selbstvergessen vor sich hin. Die mißbilligenden Gesichter der umstehenden Gesellschaft nimmt sie nicht wahr. Das Lächeln auf ihrem Gesicht strahlt hell wie der silbrige Mond in einer dunklen Nacht.
Eine Gestalt löst sich aus der Menge, schreitet auf die einsame Tänzerin zu und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Ich bin begeistert“, sagt die Gestalt.
„Oh, etwas Geist hat noch Niemandem geschadet“, antwortet die Fürstentochter atemlos.
Der Fremde lacht entzückt:“Darf ich mitmachen? Wie heißt dieser Tanz?“
„Oh, ich bin einfach nur ich selbst. Ich mag nicht mehr in der Reihe tanzen.“
Lächelnd kniet der junge Mann nieder:“Ich bin Prinz Arik. Verehrteste „Einfach-nur-ich selbst“, darf ich mit dir aus der Reihe tanzen?“
Lachend reicht die Fürstentochter dem Prinzen die Hand.
Wild und voller Lebensfreude tanzen sie durch den Saal und wirbeln die ordentliche Reihe der Tänzer durcheinander……
Hoch oben über der Brüstung einer der Logen, lehnt laut lachend und gröhlend die weise, alte Fürstin:“So soll es sein!!! Yieehhhhhaaaaaahhhhhhh!!!!
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An dieser Stelle beendete der große Wanderer seine Geschichte.
„Diese Geschichte- sie findet jetzt gerade statt, in diesem Moment, nicht wahr?“, fragte der kleine Wanderer.
Der Große nickte:“Hier müssen wir nichts tun. Der Stein ist in guten Händen.“
„Ich bin gespannt, wie es weitergeht.“, sagte der kleine Wanderer
Gewidmet der wunderbaren Blumenfee
Katrin Kessler
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