Die Liebenden
Die langen Äste der Bäume des verwunschenen Waldes bewegten sich sanft im Wind. Auf dem Fluss, der sich durch den verwunschenen Wald schlängelte, bewegten sich kleine, sanfte Wellen, die sich leise kichernd zuplätscherten.
Auf der Steinbrücke, die sich seit ewigen Zeiten über den Fluss spannte, schritten zwei Wanderer ihres Weges, ein Großer und ein Kleiner.
Sie bewunderten die verschlungenen, steinernen Schnörkel des weißen Brückengeländers, in denen jeder der beiden etwas anderes erkannte. Auf dem hohen Geländer saßen, hockten, lagen, standen, ja schwebten sogar, skurrile Steinfiguren, von denen bekannt war, dass diese einmal im Jahr ihre Position veränderten.
Selbst bei Steinfiguren können Körperteile (falls vorhanden) einschlafen, wenn sie länger in einer bestimmten Haltung verharren. Bei ihnen geht es allerdings langsamer und unmerklicher zu als bei Wesen aus Fleisch und Blut.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß Spaziergänger oder Wanderer, die über die Brücke aus weißem Stein schritten, sich des Öfteren beobachtet vorkamen.
Sind Steinfiguren doch sehr träge ihren Bewegungen, so sind sie von Natur aus sehr neugierig und haben extrem bewegliche Augen, welches auch der Grund dafür ist, daß man sich in ihrer Nähe oft beobachtet fühlt. Eine Eigenheit, die sie mit ihren entfernten Verwandten, den Portraits, gemeinsam haben.
Der Große und der kleine Wanderer schritten durch das, von einer wahren Schlingpflanzenarmee bewachsene Spalier der Steinfiguren.
Beide Wanderer versuchten die intensiv starrenden Blicke der Figuren so gut es ging zu ignorieren. Die Brücke war sehr lang, denn der Fluss, der durch den verwunschenen Wald floss, war sehr breit.
Manchem Wanderer erschien die Brücke länger als sie in Wirklichkeit war. Anderen Wanderern wiederum, erschien sie kurz und unspektakulär zu überqueren.
Magische Brücken in verwunschenen Wäldern haben das eben so an sich.
Unsere beiden Wanderer sahen die Brücke so, wie sie wirklich war: Eine Welt für sich, die ihren eigenen Rhythmus besaß und die für jeden, der sie betrat, ein anderes Erleben parat hatte.
Der Kleine und der große Wanderer unterhielten sich miteinander.
Sie sprachen schon seit langem. Manchmal mit Worten und manchmal ohne.
“Magische Brücken. Sehr interessant. Eine Welt für sich. Wenn die Figuren nur nicht immer so neugierig starren würden”, der kleine Wanderer rieb sich mit seinem Mantelzipfel über die runden Brillengläser. Sein kurzer Ziegenbart wackelte im Wind, wie zu dem Takt einer unsichtbaren Musik. Die wendigen, kurzen Beinchen des kleinen Wanderers standen in einem enormen Gegensatz zu den langen, schier endlos scheinenden Beinen seines Kameraden.
“Da hast Du durchaus Recht, mein Lieber. Aber dies hier ist auch unter den magischen Brücken eine Besondere”, der grosse Wanderer rieb sich sein spitzes Kinn und starrte einer besonders intensiv dreinblickenden Figur prüfend ins Gesicht. Die Verlegenheit der Figur war daraufhin förmlich spürbar.
“Von einigen der Figuren hat man den Eindruck, sie könnten sich einfach nicht entscheiden, was oder wen sie darstellen wollen”, stellte der kleine Wanderer fest.
“In der Tat”, der grosse Wander zog seinen grossen Umhang zurecht. Bewundernd zogen sie weiter über die Brücke und studierten die Figuren mit zusammengekniffenen Augen oder zur Seite geneigtem Kopf. Dies verunsicherte die Steinbilder sehr, die daraufhin verzweifelt versuchten in andere Richtungen zu starren.
Schliesslich erreichten die Wanderer die Mitte der Brücke, in der sich ihnen ein wunderlicher Anblick bot .
Der kleine Wanderer machte vor einem auffallenden Objekt Halt und blickte hinauf. Hinter den runden Brillengläsern vernebelte sich kurz sein Blick und er wischte sich mit seiner Hand über die Augen.
“Es ist die nächste Geschichte, nicht wahr?”, fragte der grosse Wanderer.
„Ja.“, der kleine Wanderer nickte und beide traten näher an das Objekt, um es eingehend zu betrachten.
“Wir suchen nach einem Block, in dem zwei Menschen eingeschlossen sind?!”, fragte der grosse Wanderer fassungslos.
Der kleine Wanderer schnaufte und legte seine Hand auf das große Gebilde.
“Sieh sie Dir genau an und beschreibe mir, was Du siehst”, erwiderte er.
“Ich sehe eine Frau und einen Mann, sie beide tragen weißen Stoff an ihren Körpern. Die Augen der beiden sind geschlossen und ihre Lippen sind zu einem tiefen Kuss vereint. Sie halten sich fest umschlungen. Wie sind sie dort hineingeraten?! Können wir sie herausholen? Ist dies unsere Aufgabe?!”
Eine runzlige, braune Hand legte sich auf den Arm des großen Wanderers:“Wir greifen nur ein, wenn es uns bestimmt wurde. Egal, wie schwer es oft auch sein mag. Du weißt das. Alles hat seinen Grund. Hör zu, bevor Du dein Urteil fällst. Deine Empörung macht dich blind und taub für das gesandte Wissen.”
Der große Wanderer setzte sich an den Wegesrand in die Sonne und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Er gab sich große Mühe der Geschichte zu lauschen.
“Sie sind nicht tot und sie sterben auch nicht. Sie spüren nicht die Eiseskälte um sich herum, sie fühlen nur sich selbst. Schon seit langer Zeit besiegt ihre Liebe die Kraft des Gesteins um sie herum. In ihrem Inneren sind sie heiß wie Vulkane, und ihre Seelen sind eine Einheit. Als sie sich verliebten, erkannten sie, daß sie beide unsterbliche Zwillingsseelen waren. Sie trugen ihr Glück und ihre Liebe in die Welt hinaus und jede Seele die sie erblickte, gewann Vertrauen in das Leben und die Liebe. Dadurch wurden die Ängste der Menschen kleiner und verloren einen Teil ihrer Macht. Der Angstdämon spürte, dass seine Kräfte schwanden; und war eifersüchtig auf das Glück der beiden. Er ließ sie wissen, dass ihre Liebe nur Illusion sei und die Zeiten nicht überstehen würde. (Undenkbar bei Zwillingsseelen.) Er bot Ihnen die scheinbar einzige Möglichkeit, ihre Liebe auf Dauer festzuhalten: Sie liessen sich von ihm durch einen Zauber in einem magischen Stein einschliessen. Nichts und Niemand kann sie aus diesem Block herauslösen, es sei denn, die beiden lassen es zu. Und das kann nur geschehen, wenn Sie sich an Ihren Ursprung und ihre Aufgabe erinnern.Sie sind Zwillingsseelen, ihre Liebe wird sich zwar verändern, aber niemals vergehen”, der kleine Wanderer nahm einen tiefen Atemzug.
“Wie konnten sie sich von ihren Ängsten leiten lassen?! Sie wussten doch, dass sie füreinander bestimmt waren!“”, fassungslos starrte der grosse Wanderer auf den Steinblock.
“Angst ist ein schlechter Berater. Die Angst vernebelt die Sinne. Durch die Erstarrung gaben sie ihre Bestimmung auf; die da war Glück und Liebe in die Welt hinauszutragen und so der Angst entgegenzuwirken.“
„Sie waren da, um die Macht der Angst zu mindern und sind ihr selbst verfallen“, traurig schüttelte der große Wanderer seinen Kopf.
„Wie gesagt: Angst kann sehr machtvoll sein und sie muss existieren, darf aber nicht zu stark werden. Wir beide wissen das sehr gut. Die Entscheidung, ob man Vertrauen in das Leben oder den Weg der Angst wählt, liegt bei jedem selbst“, erwiderte der Kleine, „oftmals ist es sehr schwer beide Wege voneinander zu unterscheiden.“
„Was wird hier geschehen? Wird überhaupt etwas geschehen?“
Der kleine Wanderer lächelte:“Jemand ist bereits auf dem Weg; jemand, der vor der gleichen Entscheidung steht: Vertrauen oder Angst. Und worin unterscheidet sich das Eine vom Anderen? Die Entscheidung wird auf dieser Brücke gefällt werden, genau HIER.“
Der große Wanderer studierte die eingeschlossenen Liebenden genau:“Es macht mich traurig, sie so zu sehen. Sie sind ihrer Angst gefolgt, das hätten sie nicht tun dürfen.“
„Woran erkennst Du, dass Du deinem Herzen und nicht Deiner Angst folgst?“, fragte der kleine Wanderer.
„Eine Herzensentscheidung lässt voller Vertrauen alle Bedenken hinter sich, das Herz ist weit voller Freude und Zuversicht und man erkennt Millionen von Möglichkeiten um sich herum.
Eine Entscheidung aus Angst hinterlässt ein schales Gefühl der Sicherheit, man fühlt sich hilflos, klein, erstarrt und wie gelähmt und man ist blind gegenüber allen Möglichkeiten.
Man sucht eigentlich nur nach einem Ausweg“, sprach der große Wanderer mehr zu sich selbst.
Der kleine Wanderer lächelte:“Hab Verständnis für die beiden, es ist nicht leicht zu unterscheiden, wenn die Angst dich in Besitz genommen hat.“
Der kleine Wanderer strich liebevoll über den grossen, milchigen Steinblock:
„ Bald wird es einen Wendepunkt in der Geschichte der Liebenden geben. Rettung naht. “
„Müssen wir bleiben bis sie eintrifft?“, fragte der große Wanderer.
„Nein, wir können unseren Weg fortsetzen. Hier ist alles getan.“, der kleine Wanderer half seinem grossen Freund auf die Beine und beide schritten weiter über die magische Brücke.
Der Block mit den eingeschlossenen Liebenden schimmerte erwartungsvoll und fast freudig in der Sonne.
Bald.
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