Das Traumei
Das grosse Ei lag auf einem verschnörkelten Sockel. Es war von einem magischen Leuchten umgeben, das die umliegenden Trümmer in ein warmes Licht tauchte. Die zwei Wanderer standen im Zentrum einer zerfallenen Tempelruine. Über ihnen bohrten sich die Überreste einer gläsernen Kuppel in den Abendhimmel. Beide starrten nach oben.
“Es scheint so, als würden die Kuppelreste versuchen, den Himmel zu verletzen”, sagte der große Wanderer,“die Ruinen versuchen die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit aufrecht zu erhalten.”
Der kleine Wanderer schritt durch den ehemals von riesigen Säulen eingefassten, großen Saal.
Die kunstvollen Mosaikböden waren durch herabfallende Trümmer teilweise beschädigt und verdreckt und doch waren der Geist und die Magie vergessener Zeiten weiterhin spürbar und lebendig.
Der kleine Wanderer schritt in Richtung des schimmernden Eis, wobei er mitunter über große, umgestürzte Säulenreste klettern mußte.
Der große Wanderer, der weiterhin in den Himmel gestarrt hatte, bemerkte die Unruhe seines Begleiters und blickte in dessen Richtung.
“Was ist mit Dir?”, fragte er besorgt.
Keuchend stand der kleine Wanderer vor dem leuchtenden Ei und betrachtete es eingehend. Die Frage seines Kameraden schien ungehört an ihm vorübergezogen zu sein. Nach einer Weile sagte er fasziniert: “Kennst du es?”
Der große Wanderer schwang sich behende über die Trümmer, hin zu seinem Begleiter, der, vollkommen gebannt, vor dem schimmernden Leuchten in der Dunkelheit verharrte.
“Es ist ein Traumei”, sagte der große Wanderer schlicht.
“Kennst du seine Macht? Weißt Du, was es für die Wesen vieler Welten bedeutet?”
“Es bewahrt die vergessenen Träume, um sie uns irgendwann einmal zurückzugeben,-im richtigen Moment”, lächelte der große Wanderer.
“Du hast Recht und doch hast Du längst nicht alles gesagt, was gesagt werden muß”, der kleine Wanderer nahm sein Brille ab und begann diese zu polieren. Er tat dies sehr oft, wenn er zu einer längeren Erklärung ansetzte.
“Seit Wesen im Universum existieren, die träumen können, existieren auch Traumeier. Man kann nicht wirklich sagen, was zuerst da war. Der Traum oder das Ei. Viele Wesen kennen das Gefühl nach einem langen Schlaf zu erwachen, mit der Ahnung etwas Wichtiges vergessen zu haben. Oder man erwacht und kann einen Teil des Traumes festhalten, aber leider verblasst die Erinnerung daran sehr schnell. Selten kann man Träume zur Gänze erfassen und sich an sie erinnern. Ein Traumei sorgt dafür, daß kein Traum verloren geht. Es bewahrt sie in der Form von glänzenden, kieselsteinähnlichen Gebilden auf und hält sie in seinem Inneren weich und sicher. Und…”
“Entschuldige, wenn ich dich unterbreche, aber dieses Ei ist nicht wirklich äh..gross. Ich meine, es ist zwar schon ungewöhnlich groß, aber hier gibt es Wesen, von denen wir wisssen, daß sie größere Eier legen als das hier. Ich meine, wir haben bisher noch nie ein Traumei aus der Nähe gesehen und ich habe es mir einfach grösser vorgestellt”, der große Wanderer schaute konsterniert auf das schimmernde Oval.
“Wie soll dieses kleine Ei, so magisch es auch sein mag, die Träume hunderttausender Wesen aus hunderttausenden von Welten aufbewahren können, nicht wahr?”, lächelte der kleine Wanderer,“in deinem Inneren kennst Du die Antwort, aber aus irgendeinem Grund, möchtest Du die Erklärung in gesprochenen Worten hören.”
Der große Wanderer lächelte.
“Dieses Ei ist in seinem Inneren unendlich groß. Wesen, die Einlass begehren, werden hineingelassen, um ihre verlorenen Träume zu suchen. Die, die ihre Erinnerung daran behielten, berichteten, daß man einen blendend weißen Raum betritt. In diesem Raum befinden sich Millionen und Abermillionen der glänzenden Kieselsteine in allen Formen und Farben. Und sie sind umgeben von weissen federähnlichen Fächern. Alle Träume, ob gut oder schlecht, werden auf die gleiche Art und Weise behütet und aufbewahrt. Denn jeder Traum hat seinen Sinn.
Wenn man Einlass ins Traumei bekommen und seine vergessene Träume gefunden hat, so erkennt man dies an verschiedenen Merkmalen (nur die allerwenigsten können sich an ihren Besuch im Traumei erinnern): Vielleicht träumt man diesen Traum mehrfach, vielleicht erwacht man auch mit der Gewissheit, daß etwas lange vergessen Geglaubtes wieder da ist und man fühlt sich wieder vollständig.
Es gibt viele, unterschiedliche Beschreibungen.”
“Aber was geschieht mit den Träumen, nach denen niemand mehr sucht. Die, die zurückgelassen wurden oder die, deren Besitzer das Lebendreich für immer verlassen hat? Warten sie auf ewig?”, fragte der große Wanderer.
“Unendlich viele Träume werden zurückgelassen. Sei es, weil die Besitzer diesen Träumen keine große Bedeutung zuschreiben oder weil die Besitzer nie den richtigen Weg gefunden haben.
Die zurückgelassenen Träume werden nicht zu Waisen, denn sie werden zurückgesandt an die Gestade der Meere und Ozeane aller Welten. Und da sie wie normale Kieselsteine aussehen, werden sie vielleicht als Erinnerungsstücke von jemandem gefunden und behalten. Im Inneren tragen sie immernoch den Glanz des Traumeis und sie werden ihrem Finder Träume und Erinnerungen schenken. Nichts geht wirklich verloren.”
„Wieso hat man diese Stätte hier verlassen?”, fragte der große Wanderer.
“Oh, sie war nie wirklich verlassen”, sagte der kleine Wanderer.
Der Große trat vor und legte seine Hand auf die schimmernde Schale des Eis:”Ich würde gerne hineinsehen.”
Der Schimmer des Eis wurde stärker und eine kleine ovale Öffnung erschien in dessen Mitte und der große Wanderer wurde förmlich hineingesogen. Er schien zu schweben.Ein gleißend heller Raum umgab ihn und überall sah er die Traumkiesel, die von den weißen Fächerfedern geschützt wurden.
Von einem bestimmten Punkt wurde er magisch angezogen.
Dort!! Dort war er!!! Der Wanderer streckte seine Hand aus und ein faustgroßer, glänzend weißer Stein löste sich aus dem Schutz der weichen Umgebung und flog ihm sanft entgegen. Seine Hand schloß sich darum…..
Der große Wanderer erwachte wie aus einem tiefen Schlaf und fand sich auf den Stufen wieder, die zu dem Podest des Traumeis führten. Sein kleiner Freund saß neben ihm, eine Hand auf seine Schulter gelegt:
“Du hast gefunden, was Du gesucht hast.”
Der Große nickte und der Kleine sagte:”Wir müssen weiter, eine Ewigkeit liegt noch vor uns.”
Der Große öffnete seine Hand und blickte auf einen leuchtend weißen, faustgrossen Stein, den er behutsam in seinem braunen Lederbeutel verstaute: “Es ist nur für immer und das ist überhaupt nicht lang…”
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