Kerne
Das Land war in erdrückendes Dunkel gehüllt. Bedrohliche, schwarze Wolken ballten sich vor dem dunklen Himmel.
Der kleine Wanderer blickte empor:“Starker Regen wird kommen.“ Und kaum, daß er geendet hatte, brach ein heftiger Sturmregen los.
Dicke Tropfen schlugen wie kleine Gewehrkugeln auf die Pflanzen und Bäume der Umgebung. Die beiden Wanderer schritten durch das Trommelfeuer des Regens.
Aber kein einziger Tropfen erreichte sie. Durch einen unsichtbaren Schutz, waren sie vor allen Umwelteinflüssen geschützt.
„Es ist gut, daß wir uns entscheiden können, ob uns das umgebende Wetter erreichen kann oder nicht“, sagte der große Wanderer.
„Bei allem was wir bisher erlebt haben, muß ich feststellen, dass dies die größten und heftigsten Regentropfen sind, die ich jemals sah.“
„Die dracheneigroßen Hagelkörner fandest du also nicht so ausgefallen?“
Der Große zuckte mit den Achseln:“Sie deprimierten mich jedenfalls nicht so.“
Beide schritten weiter durch den Regen, der sich vor ihnen auftürmte wie eine dichte, graue Wand.
„Heute dürfen wir der Geburt einer Legende beiwohnen“, bemerkte der kleine Wanderer.
Der Große nickte:“Ich weiß.“
Unbehelligt durch die Naturgewalten schritten sie auf ein graues Bergmassiv zu. Wie der riesige Rücken eines grauen Urzeittieres bildete es die natürliche Grenze der Landschaft.
„Dort! Es beginnt!“, der große Wanderer deutete auf eine Gestalt, die geduckt auf einen Höhleneingang am Fuße des Bergmassivs zulief.
Die Gestalt hatte das sichere Ziel erreicht und nicht mehr als 10 Meter trennten sie von den beiden Wanderern. Doch der geduckt laufende junge Mann bemerkte die beiden Wanderer nicht. Hinter ihm betraten beide die Höhle. Der junge Mann schüttelte sich die Regentropfen aus den Haaren. Er war völlig durchnässt und schien zu frösteln.
„Er sieht unsagbar traurig aus“, sagte der große Wanderer, seine Stimme verursachte kein Echo in der Höhle,“er scheint alle Hoffnung verloren zu haben.“
„Sieh!“, sagte der kleine Wanderer.
Der junge Mann schritt weiter in das Innere des Berges. Dann rief er: “Man sagte, ihr seid Götter und ihr besäßet Macht!! Man sagte, das dem, der zu euch kommt, geholfen wird. Und doch habe ich in all der Zeit niemals erlebt, dass ihr etwas von eurer Macht offenbart oder weitergegeben hättet!!“
Er unterbrach sich und schien zu lauschen.
Der Berg schwieg.
„Ihr antwortet nicht! Ich wußte es! Ihr habt keine Macht!“
Die Wanderer standen vor ihm und starrten ihn an.
„Man spricht voller Ehrfurcht von Euch! WARUM?! Es gibt keinen Grund dafür! Ich bin hergekommen, weil ich mir Antworten erhofft habe! Irgendetwas! Sie sagen: Die Berge leben! Von alldem spüre ich nichts. Alles hier ist tot. Es ist kalt— so kalt, so kalt wie überall, wo ich mich aufhalte!“, weiter schrie er in den Berg, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Er ist so voller Wut und Verzweiflung“, betrübt blickte der große Wanderer auf den jungen Mann.
„Er ist unzufrieden mit sich, und deshalb ist er es auch mit allen anderen. Deshalb bschimpft er die Berge. Er hat alle Hoffnung, allen Glauben an sich selbst verloren. Und er hat nie gelernt Verantwortung für sich und seine Gedanken zu übernehmen“, sagte der kleine Wanderer.
Der junge Mann hatte begonnen, den nackten Fels mit Fäusten zu traktieren bis ihm die Hände bluteten:“Ich will Hoffnung! Einen Rat! Gebt mir irgendwas, etwas, das mich wieder glauben läßt…an irgendetwas….!“, wieder und wieder schlug er gegen den Fels, während ihm die Tränen über sein Gesicht liefen. Er weinte nicht vor Schmerzen, er weinte vor Wut und Selbstmitleid.
Nach langer Zeit brach er erschöpft und schluchzend zusammen und blieb stumm und schluchzend auf dem kalten Höhlenboden liegen.
Die Wanderer sprachen nicht und beobachteten weiter.
Ein schales Licht schien plötzlich von den dunklen, grau-braunen Steinen auszugehen. Ein großer Stalakmit erzitterte, als ein Stück aus ihm herausbrach. Darunter kam ein hell schimmerndes Stück Gestein zum Vorschein.
Der große Wanderer stieß den kleinen in die Seite. Beide blickten auf den Stalakmiten und lächelten.
Der graubraune Stalakmit gab seinen Kern frei, wie eine Auster, die eine Perle freigibt.
Mit tränenverschleiertem Blick blickte der junge Mann auf das Geschehen.
In gleichem Maße schockiert wie fasziniert beobachtete er den sich öffnenden Stalakmiten. Das Licht, das mit einem Mal aus den umgebenden Höhlenwänden zu dringen schien, wurde stärker. Das letzte Stück Felsgestein fiel und befreite den weißen Kern endgültig.
Etwa einen halben Meter groß, stand das Geschenk der Berge vor dem erschütterten jungen Mann, der immernoch auf dem Boden saß.
Der Stein schimmerte in dem hell erleuchteten Höhlenrund:
Ein weicher Kubus mit rundem Kopf und welligen Aussenseiten.
Der junge Mann streckte seine Hand aus, um den Stein zu berühren, jedoch zog er diese gleich wieder zurück , als er bemerkte, daß dieser leicht vibrierte.
Ein wellenförmiger Riß durchzog die Mitte des Gebildes.
Und aus der Mitte des Steins schien ein schmalerer Kern zu entspringen, der die Aussenseiten langsam aber kraftvoll auseinandertrieb.
Das Licht in der Höhle nahm von einem Augenblick auf den anderen grelle Ausmasse an, so daß der junge Mann die Arme vor die Augen halten mußte, um nicht geblendet zu werden.
Die beiden Wanderer blickten unverwandt auf den gleißenden Mittelpunkt der Szenerie.
Nach einer Weile wurde der Glanz schwächer und der junge Mann erkannte, daß in dem Kern des weissen Steines viele farbige Edelsteine eingebettet waren.
„Was ist das?“, fragte er atemlos in die Höhle.
Und an den Stein gewandt:“Was bist Du?“
Er stand auf, kniete nieder und berührte das Gebilde.
Ein kräftiger Schwall warmer Energie schoss durch seinen Körper.
Sein Blick öffnete sich, sein Herz öffnete sich.
Die Welt um ihn herum schien sich zu verändern.
Er wandte sich um und erblicke die beiden Wanderer:“Wer seid ihr?“
„Das weißt Du doch“, erwiderte der Kleine.
„Ihr seid die Wanderer“, stellte der junge Mann fest,“und dieser Stein ist ein Geschenk an mich.
Ich war blind. Voller Wut und Trauer und Selbstmitleid. Ich machte alle anderen für mein Unglück und meine Unzufriedenheit verantwortlich. Als ich den Stein berührte, wurde mir klar, dass nur ich die Verantwortung für meine Gedanken und Gefühle trage. Ich habe immer die Wahl.
Ich kann mich für Wut und Hass entscheiden oder aber für Liebe und Verständnis. Die Grenzen, die ich mir selber gesetzt haben, kann ich erkennen und durchbrechen.
Auch dieser Stein hat es geschafft die Edelsteine in seinem Kern freizugeben.
Ich werde ihn mit mir nehmen, und meine Erkenntnisse an jene, die ich treffe, weitergeben…“
Die Sonne schien auf die vom Regen lädierte Vegetation, als die beiden Wanderer aus der Höhle ins Freie traten.
„Was wird er tun?“, fragte der große Wanderer.
„Oh…..das ist echter Stoff aus dem Legenden sind“, lachte der kleine Wanderer.
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