Der Geschichtenerzähler
„Vor langer Zeit waren sie hier, die beiden Wanderer“, sagte der alte Mann und blickte an seiner Zuhörerschaft vorbei in die Ferne, „ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Sie wirkten der Zeit enthoben. Und sie brachten verlorenes Wissen zurück“, sein Blick in die Ferne schien bis in die Vergangenheit zu reichen.
„Schon seit Jahrhunderten erzählte man sich in unserem Dorf von den zwei Wanderern, und schon damals war diese Erzählung sehr alt. Niemals hätte ich damit gerechnet sie jemals zu treffen, zumal ich der Meinung war, daß es sich bei diesen Erzählungen um Märchen handelte. Die Geschichten nannte die Wanderer Beobachter, Botschafter und Bewahrer von alten Legenden und deren Magie. Wo immer sie auftauchen, werden vergessene Legenden wieder lebendig. Ich bin dankbar, daß ich sie treffen durfte. Wer weiß, wie es ohne sie mit meinem Leben weitergegangen wäre….“, der Alte senkte nachdenklich seinen Kopf, bis er plötzlich auf Etwas deutete: „Sehet den Stein dort.“
Die Zuhörer, darunter viele Durchreisende, wandten sich dem naheliegenden Steinkreis zu. Im Mittelpunkt der schwarzgrauen Monolithen befand sich ein Sockel mit einem weißen Stein.
„Dieser Stein ist uralt. Er ist älter als alles andere von Menschenhand Gefertigte in dieser Gegend. Er besitzt magische Fähigkeiten.“
Ein ungläubiges Raunen ging durch die Menge.
Der alte Mann lachte in sich hinein:“Jaja. Ihr werdet schon noch verstehen. Damals, als ich die Wanderer traf, war ich sehr jung. Der Steinkreis war verlassen und seine Bedeutung war schon lange vergessen worden. Und doch suchten die Menschen unseres Dorfes in besonderen Situationen seine Nähe. Viele behaupteten, in seiner Nähe klarer denken zu können. Sie sagten, der Blick nach Innen würde frei werden und das Wesentliche würde sichtbar. Natürlich nur, wenn man bereit war, den Stein sozusagen „in sich hinein“ sehen zu lassen. Genaueres jedoch konnte niemand sagen. Viele sehnten sich nach einer Art Gebrauchsanweisung, um die Kraft des Steines besser verstehen zu können und eines schönen Tages erschienen sie; die zwei Wanderer.“
Die müden Augen des alten Mannes leuchteten, als er den lange vergangenen Tag schilderte.
Die Zuhörer waren still und lauschten.
„Es war ein freundlicher, sonniger Tag. Ein Tag, wie er oft in Legenden beschrieben wird. Ich jedoch fühlte mich schlecht. Seit Wochen schon nagte etwas an meinem Inneren. Wie gesagt, ich war sehr jung damals. Und wie immer, wenn es mir nicht gut ging, zog es mich zu dem Stein und ich saß dort, kaute auf einem Stückchen Süßholz und betrachtete die spiralförmigen Muster.
Mit einem Mal spürte ich, daß ich nicht mehr allein war und blickte mich um:
Der eine Wanderer war klein, untersetzt, trug einen runde Brille, ein Barett und einen roten Schal. Der andere Wanderer war groß. Er trug einen breiten Hut und hatte ein Grübchen im Kinn. Das Alter der beiden konnte ich nicht ausmachen.
Der kleine Wanderer sagte: „Sei gegrüsst Immanuel! Du wirkst überrascht!“
„Oh, das bin ich. Dennoch…ich kenne Euch. Ich meine, ich weiß wer ihr seid“, erwiderte ich und fragte mich insgeheim, weshalb der kleine Mann meinen Namen kannte.
Der große Wanderer war indes auf den Stein zugegangen; er strich über die Oberfläche und murmelte:“Das ist er also. Ich bin beeindruckt von seiner Schlichtheit.“
„Nicht alles, was mächtig ist, muß auch gleich so aussehen, Immanuel. Vergiß das niemals!“, sagte der kleine Wanderer zu mir gewandt.
„Was ist seine Macht? Was macht ihn aus?“, fragte ich mit bittender Stimme.
„Er ist einer von vielen magischen Steinen. Wir haben schon unzählige gesehen und doch ist es immer wieder ein Abenteuer. Das Wissen um ihn scheint verloren gegangen zu sein, seine Macht ist noch nicht wieder voll erblüht“, gedankenverloren putzte der kleine Wanderer seine Brille.
„Die Menschen dieser Gegend kommen hierher, weil der Stein sie magisch anzieht, aber niemand kann sich diese Anziehung genauer erklären. Vieles ist vergessen worden. Bitte teilt Euer Wissen mit mir und ich werde dafür sorgen, daß es nicht noch einmal verloren geht. Ich bitte Euch inständig!“
Flehend stand ich vor den Wanderern.
Der Kleine lächelte mich an:“ Gut, wenn Du versprichst die Geschichte am Leben zu erhalten.“
Er nickte dem großen Wanderer zu und dieser begann zu erzählen:
„In einer längst vergangenen Zeit waren viele Landstriche dieser Gegend beherrscht von machtvollen Priesterorden. Diese hatten ihr Wirken dem Wohlsein der menschlichen Seele verschrieben. Sie vertraten die Ansicht, dass nur eine gesunde Seele den Körper gesund erhalten kann. Also war es ihr Streben die Kräfte und Anlagen jeder einzelnen Seele zur vollen Entfaltung zu bringen. Es gab jedoch eine feindlich gesinnte Kaste, die die Meinung der Priester nicht teilte und die ihre Macht dazu benutzte, Jagd auf die Mitglieder des Ordens zu machen. Als eine Zeit kam, da die Priesterschaft ihr Ende gekommen sah, legten sie ihr gesammeltes Wissen und alle gewonnene Macht in diesen Stein und versahen ihn mit ihren magischen Zeichen.
Der Stein sollte die verborgenen Talente und Bestimmung der Menschen offenbaren, die sich ihm vollständig öffnen konnten. Sie nannten den Stein „Ha-wa-nauee“.
Die verfolgten Priester mußten fliehen und so verschwand mit der Zeit der komplette Orden und das Wissen um den Stein ging verloren. Doch das Vermächtnis der Priester existiert weiter. In diesem Stein.“
Als der große Wanderer seine Geschichte beendet hatte, blickte er mich an.
Ich wandte mich dem Stein zu und umarmte ihn. Nun, da ich seine wahre Bedeutung kannte, drang seine Botschaft, einem Glockengeläut gleich, an mein Ohr. Mir wurde klar, was ich schon lang hatte tun wollen….eine überirdische Freude erfüllte mein Herz, als mir meine Bestimmung klar wurde.
Als ich mich schließlich überglücklich und mit Freudentränen auf den Wangen umwandte, waren die beiden ohne ein weiteres Wort verschwunden.
Ich habe sie niemals wiedergesehen.
Seit jenem wunderbaren, sonnigen Tag, an dem eine vergessene Legende wieder erwachte, hat dieser Stein schon unzähligen Menschen geholfen.
Und seither komme auch ich zu diesem Platz und erzähle Geschichten.
Denn dies ist es, was ich tief in meinem Herzen schon immer wollte. Es ist meine Gabe, meine Bestimmung, die Kraft in meiner Seele, die mich erfüllt und glücklich macht“, der alte Mann lächelte zufrieden, blickte in die Ferne und stutzte verwundert.
Weit draußen auf einem kleinen Hügel glaubte er plötzlich, zwei Gestalten zu erkennen. Sie schienen ihm zuzuwinken, dann schritten sie der Sonne entgegen und verschwanden.
Die eine Gestalt war groß und die andere klein.
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