Das Herz des Drachen
Eine triste Landschaft umgab zwei einsame Wanderer. Der eine Wanderer war gross und der andere Wanderer war klein. Beide schienen weit und breit die einzigen Personen zu sein, die sich in der grauen Landschaft aufhielten.
Der Blick des grossen Wanderers taxierte die Umgebung: der Pfad, auf dem sie vorher einher geschritten waren, war steinig und wenn jemals ein Pfad als traurig bezeichnet werden konnte, so traf es ganz gewiss auf diesen zu. Er schleppte sich durch graues, beinahe mumifiziert wirkendes Gras, vorbei an aschgrauen Felsen und verdorrten Büschen. Und sogar die Sonnenstrahlen schienen voller Trauer zu verblassen, lange bevor sie den Boden erreichten.
„Dies ist eine der traurigsten Landschaften, die wir bisher durchwandert haben“, sagte der grosse Wanderer. Der kleine Wanderer nickte stumm. Er schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Nach einer Weile, in der sie weiterhin dem Pfad gefolgt waren, der lustlos einen kleinen Hügel überquerte, veränderte sich der nachdenkliche Gesichtsausdruck des kleinen Wanderers. Es schien, als hätten seine Gedanken ihr Ziel gefunden.
Als beide die Hügelkuppe erreichtenn, von der aus sich eine weite Sicht über die karge, triste Landschaft bot, blieb der kleine Wanderer stehen.
Der Grosse tat es ihm gleich und folgte dem aufmerksamen Blick seines Kameraden und erspähte in der stein-und strauchübersäten grauen Ebene, ein glänzend weißes Etwas.
Er kniff die Augen zusammen, doch noch war es zu weit entfernt, als daß er Genaueres hätte erkennen können.
Schweigend schritten sie den Hügel hinunter.
Nach einer Weile erreichten sie das weisse Gebilde, das sich mittlerweile als eine Art Statue entpuppt hatte, die auf einem der grauen Steine der Ebene stand, so, als sei sie dort festgewachsen.
Beide Wanderer legten den Kopf schief und studierten den weissen Stein.
Schließlich war es der kleine Wanderer, der sich auf einem nahegelegenen grauen Findling niederließ und dabei einen knurrenden Laut von sich gab.
„Was ist es? Ich kann nichts daraus erkennen?!“, sagte der grosse Wanderer, nachdem er den hellen Stein einige Male umrundet hatte.
„Es ist wie immer. Es ist eine von tausenden Legenden, die im Verborgenen existieren, und die wiedergefunden werden wollen“, antwortete der Kleine und strich sich über sein Ziegenbärtchen.
„Vor langer Zeit war dies ein fruchtbares, blühendes Land. Ein Drache lebte hier und man kann sagen er und das Land seien eine Art magische Symbiose eingegangen. Das Land diente dem Drachen und der Drache diente dem Land. Ein Mann hatte von den verschiedenen Legenden um Drachen gehört und wie jeder weiss, steckt in Legenden immer das ein oder andere Körnchen Wahrheit. Aber leider wird auch vieles mißverstanden und verschwiegen oder vergessen.
Der Mann glaubte, daß der Drache eine unermeßlichen Schatz behütete und das derjenige, der in Drachenblut badete, unverwundbar werden würde. Das erzählte man sich seit jeher so; also mußte es wohl stimmen, dachte der Mann“, der kleine Wanderer schüttelte mitleidig und resigniert den Kopf.
Der große Wanderer hatte sich nun ebenfalls auf dem Findling niedergelassen und lauschte.
„Wie dem auch sei. Der Mann tötete den Drachen und badete in dessen Blut. Dann begann er in der Drachenhöhle nach dem vermuteten Gold zu suchen. Er suchte sehr lange und fand dennoch nichts als Drachenkot und Nahrungsreste. In seiner grenzenlosen Wut und Enttäuschung machte er sich über den Körper des Drachen her. Er zerstiess dessen Knochen und mahlte sie klein. Er nahm das Herz des Drachen und schmiss es in den Beutel mit dem Knochenmehl. Damit wollte er beweisen, dass er ein unverwundbarer Drachentöter war. So würde er sich etwas von dem Reichtum zurückholen, der ihm in der Höhle versagt geblieben war. Als der Mann mit seinem grossen Beutel und dessen grausigem Inhalt vor die Höhle trat, erkannte er, daß die noch vor kurzem blühende Umgebung, grau geworden war. Bäume, Blumen und Gräser waren verdorrt und es schien, als sei das Land jeglichen Lebens beraubt worden.
Eingeschüchtert wanderte der Mann durch die anklagende, trauernde Landschaft. Allerdings kam er nicht sehr weit, denn der Beutel auf seinem Rücken schien mit jedem seiner Schritte schwerer zu werden. Schließlich war er gezwungen, seine Last auf einem Findling abzustellen.
Der braune Stoff löste sich und gab seinen Inhalt frei und als der Mann erblickte, was darunter zum Vorschein kam, erschrak er voller Grauen. Ein eigenartiges Gebilde ragte vor ihm auf, das von jeder Seite anders wirkte. Mal wie eine Schlange, die ein Ei beschützte; wie Finger die etwas zum Schutze umschlangen, mal wie eine heftig zusammengepresste Faust und im Ganzen wie…DAS HERZ DES DRACHEN, das er in seiner Wut in den Beutel geschmissen hatte.
Das Herz des Drachen, geschützt und eingeschlossen durch die zermahlenen Knochen des Drachen.
Und der Mann erkannte, dass die Kraft des Drachenherzens das Land beschützt hatte und er verstand, warum alles um ihn herum so plötzlich ergraut und verstorben war“, der kleine Wanderer hielt inne.
„Was geschah mit dem Mann?“, fragte der große Wanderer.
„Nun, er ging fort. Schuldbeladen und mit Angst in der Seele verschwand er und vielleicht fand er heraus, daß ein Bad in Drachenblut niemanden unverwundbar macht der in Wahrheit an etwas völlig Anderes glaubt….vielleichte trieb ihn die Schuld, die er auf sich geladen hatte, auch in den Wahnsinn und vielleicht lebte er weiter und verschloß all das tief in seinem Inneren und wurde deshalb nie mehr froh…“, der Kleine zuckte mit den Schultern, „aber letztlich ist das doch nicht mehr wichtig, oder?“
„Ach ja“, setzte er hinzu, „außerdem steht geschrieben, daß das Herz des Drachen im Inneren der Skulptur weiterschlägt und daß man es hört, wenn man sein Ohr an den Stein legt.“
Der große Wanderer trat vor, hielt sein Ohr auf eine der Windungen des Knochensteines und schloß die Augen. Nach einigen Minuten blickte er auf:“Ja. Es ist ganz leise und doch ist es da. Ein fast unhörbares, sanftes Pulsieren und es scheint zu mir zu sprechen. Doch….“
„..es ist nicht für uns bestimmt“, setzte der kleine Wanderer den Satz fort.
„Aber es sagt, wie das Land gerettet werden kann; wie das Gleichgewicht wieder hergestellt werden kann.“, erwiderte der große Wanderer.
„Ich weiß. Aber das gehört nicht zu unserer Aufgabe. Es ist nicht mehr unser Teil der Geschichte. Vergiß nicht, wir sind oft nur da, um zu erinnern, daß es diese Legenden und Geschichten gibt. Jemand Anders ist der Schlüssel. Wir erleben, beobachten, helfen, und erzählen;- mehr nicht.“
„Laß uns weitergehen, denn noch immer tut es weh nicht eingreifen zu dürfen“, der große Wanderer streckte dem Kleinen seine Hand entgegen und dieser ergriff sie.
Schweigend schritten beide weiter.
„Und das Land trauert“, murmelte der Große.
„Nicht mehr lange, mein Freund“, lächelte der Kleine und putzte die Gläser seiner ovalen Brille, „nicht mehr lange.“
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