Gelegentlich treffe ich alte Verwandte und Bekannte in der Stadt.
„Alt“ an Jahren.
„Yvon-ne!Hür ens, du bis ja nur noch am loopen, hat die Dingens mir erzählt!“
„Laufen tut mir gut“, antworte ich.
„Mähs Du dir kinne Sorjen, watt die Lück ahl denken könnten?“
„Was könnten die Leute denn denken?“
„Na, datt de nix zo donn häst.“
Überrascht schaue ich auf die kleine alte Frau vor mir, die es überhaupt nicht böse gemeint hat.
„Wenn es wirklich Leute gibt, die Zeit haben, sich so viele Gedanken
über andere zu machen, dann haben die scheinbar selber nix zu tun“, erwidere ich.
„Du wees doch, wie die Lück sind“, sagt sie beschwichtigend.
„Wer sind denn „die Lück“?“, frage ich interessiert,“vielleicht kann man sich ja mal mit denen treffen und sie dazu befragen?“
„Du bis en verrrücktes Hohn! Du wees janz jenau wat ich meen! De Lück halt!“, sagt die alte Dame.
„Weisst Du, damals, als Oma Leni noch lebte, wollte ich mit ihr mal auf unserem Balkon frühstücken. Sie sagte damals:“Op em Balkon frühstücken!?! Da sehen die Lück ja, dat wir nix zu donn hann!“
„Omma, es ist Sonntag!“
„Ejal! Kütt nit in Frage!“
Nur einmal konnten wir sie abends zum Bier trinken auf dem Balkon überreden. Bei Bier konnte sie irgendwie nie „nein“ sagen…..
Jetzt ist sie seit 10 Jahren tot. Sie hat nie auf ihrem wunderschönen Balkon mit Ausblick auf die Dorfkreuzung gefrühstückt. Und das alles nur, wegen dem, was „die Leute“ sagen könnten. Also, ich finde das sehr traurig.“
Die alte Dame seufzt: „Hach ja, et Lenchen. Die wusste, dat die Lück reden.“
Ich seufze auch, nur aus anderen Gründen.
„Jetzt liege ich im Sommer gelegentlich „oben-ohne“aufm Balkon, weil ich keine Streifen auf dem Dekollete mag und weil ich die Nachbarn gerne ärgere.“
Empört reisst die alte Dame die Augen auf.
„Weisst Du, die Leute reden nur über andere um sich von sich selbst abzulenken. Sie reden also praktisch IMMER—- und genau deshalb mache ich DAS was ICH will—reden tun sie ja sowieso! Klasse Lösung, oder?!“
„Du bis en verücktes Huhn…nit bös jemeint, aber normal bisse jedenfalls nit.“
„Normalsein ist keine Tugend, es ist lediglich ein Mangel an Mut“, sage ich.
„Bekloppt bleibt aber och bekloppt, nu- man kennt dich ja nit anders“, sie tätschelt meine Hand und zieht kopfschüttelnd von dannen.
„Schönen Tach noch“, rufe ich hinterher.
„Jo. Dir och“, dröhnt es..
„Wenn Du auch mal oben-ohne auf dem Balkon liegen willst..-. Du bist hiermit herzlich eingeladen!!!“ brülle ich quer über die Telegrafenstr.
Lautes, missbilligendes Schnaufen ist die Antwort.
Fazit:
Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.
und
Viele werden alt.
Die wenigsten werden weise.
Schreibe einen Kommentar