Meine Oma starb an einem Samstag Morgen im August.
Sie stirbt damals nach langer qualvoller Zeit des Dahinsiechens in Demenz zuhause in ihrem Krankenbett.
Als ich die Tür zu ihrem Zimmer öffne, spüre ich eine unsichtbare,
undurchdringliche Wand, die mir den Eintritt unmöglich macht.
„Sie will in Ruhe gehen. Ich muss sie lassen“, denke ich und, obwohl mein gesunder Menschenverstand etwas anderes behauptet, gehe ich mechanisch ins Wohnzimmer nebenan und schreibe Danksangungskarten für unsere Hochzeit.
Eine Stunde später, immer noch sehr früh am Morgen, betritt meine
Mutter mit Tränen in den Augen den Raum: „Oma ist gestorben“, sagt sie.
„Ich weiss“, antworte ich. Als ich das kleine Zimmer betrete, ist die
unsichtbare Wand fort und als ich an Omas Bett stehe, brechen alle ungeweinten Tränen der vergangenen Jahre aus mir heraus…..-
Minuten später wird es dann absurd:
„Ruf doch mal bitte den Notarzt an, Yvonne.“
Heulend stapfe ich ins Büro und wähle die Nummer.
„Guten Morgen, Yvonne Schwanke aus Buchholzen. Meine Oma ist
soeben verstorben“, schluchze ich gedämpft in den Hörer.
„Guten Tag. Sind Sie auch sicher, dass sie wirklich tot ist?“
„?!?!?!“, denke ich unter Tränen und sage:“Ja, denn sie atmet nicht mehr.“
„Sind Sie wirklich sicher, dass sie tot ist?!“
Jetzt wird’s langsam absurd, denke ich, und brülle innerlich in die Leitung:
‘Ab wann zum Teufel ist man denn für sie offensichtlich tot?! Wenn der Kopf 2 Meter neben dem Rumpf liegt?! Und dann soll man am besten zur Sicherheit noch einen Spiegel vor den Mund halten, oder wie?!?!’
In den Hörer spreche ich jedoch ruhig:„Welche Beweise brauchen Sie bitte von mir?“ und erwarte eine Antwort a la: ‚Stechen Sie ihr doch bitte kurz ins Bein, um zu sehen ob sie schreit oder blutet’
„Haben Sie den Puls gefühlt und den Atem überprüft?“
„Ja“, sage ich resigniert.
„Gut“, sagt die Stimme aus dem Hörer, „dann haben wir ja keine Eile!“
„Hääh?!“, sage ich.
„Nun ja, der Zustand ihrer Oma ist relativ unveränderlich“, sagt die Stimme nüchtern.
„Bis auf die Leichenstarre“, werfe ich ein.
„Nun, auch DAS geht vorbei.“ sagt die Stimme.
„O.k.“, sage ich und lege auf und denke:
‚Was für ein Telefonat!’
Doch das Kuriositätenkabinett der absurden Situationen sollte sich an diesem Tag für mich noch weiter drehen:
Kurtchen, Omas älterer Bruder, trifft ein, um ihr „Auf Wiedersehen“ zu sagen.
Papa, Omas Sohn, sitzt trauernd an Omas Bett.
Oma liegt friedlich im Krankenbett, allerdings mit weit offenem Mund und das ist nicht schön anzusehen.
„Lenchen, Lenchen, Lenchen. Sei froh, endlich hasset über. Datt wuor doch nimmehr schön. Dat Leiden hat nun ein End“, sagt Kurtchen sanft, als er über Omas Hand streichelt und dann:
„Karl-Walter, bind ihr doch ens den Monk zu! Dat hammer früher doch och immer so jemaat!“
Papa blickt schockiert drein:“Kurt! DAS kann ICH nicht!“
Daraufhin schauen beide MICH an und ich denke „och nööö!“
“YWONNE, dann mach du datt!“, bestimmt Kurt.
Seufzend und fassungslos, suche ich Mullbinden.
Ich finde keine.
NATÜRLICH finde ich keine!
Fieberhaft überlege ich, was man sonst noch benutzen könnte.
Schliesslich folge ich einer Eingebung, knote zwei Küchentücher zusammen und mache mich zögernd und ehrfürchtig an die Arbeit.
Als ich fertig bin, trägt Oma eine Schleife auf dem Kopf und sieht aus, als habe sie Zahnschmerzen. Aber der Mund ist geschlossen.
„Hatteste keine Mullbinden?!“, fragt Kurt,“also, datt geht auch schöner.“
Ich schaue ihn durchdringend an.
Als ich den Raum verlassen will, ruft Kurtchen:“YWONNE!! Et hält nit.
Der Monk ist wieder offen!“
Ich versuche es noch einmal und denke währenddessen:
‚Ich kann nicht fassen, was ich hier tue’
So!! Hält! Bombenfest!
Doch Omas Unterkiefer ist, (wie schon zu Lebzeiten), stur wie 10 Maulesel.
Keine 2 Minuten später brüllt Kurtchen:
„Da! guck mal! Der geht ja schon wieder langsam auf! Et hält nitt!“
Mein Kopf sinkt auf meine Brust und ich atme tief ein:
“Kurtchen, die Tagespflegefrau kommt doch gleich. Die hat bestimmt Mullbinden!“
„Ja, aber die Leichenstarre!“
„Auch DAS geht vorbei“, sage ich, als ich hinausgehe, um Luft zu schnappen.
Später betritt meine Mutter das Zimmer und ich höre sie fragen:
„Was machen die losen Küchentücher um Omas Kopf?
Sie sieht aus, als hätte sie Zahnschmerzen.“
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