Gelegentlich werden Massagetermine kurzfristig abgesagt.
Nur Minuten nach einer ebensolchen Absage erreicht mich ein Anruf.
“Meine Mutter hat Geburtstag. Sie ist 84 Jahre alt und dement und ich würde ihr gerne eine Massage bei Ihnen schenken. Am liebsten wäre mir ein zeitnaher Termin”, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung.
Ich biete ihr den soeben frei gewordenen Termin an.
“Das ist ja schon in einer Stunde! Das schaffen wir!”, erklärt sie hocherfreut.
Die alte Dame ist klein, mit vollem weißen, lockigen Haar, das ihr bis auf die Schultern reicht.
Sie bewegt sich langsam und tapsig wie ein Hundewelpe und wird von ihrer Tochter gestützt.
Als wir der alten Dame erklären was sie erwartet, ruft sie erstaunt:
“Wie? Ausziehen?! So ganz?!”
“Nein, Mutti! Nur oben rum!”, erklärt ihre Tochter.
Mir geht das Herz auf, als ich sehe, wie geduldig sie ihrer Mutter beim Entkleiden hilft.
Als die alte Dame die Liege erobert hat und ich langsam mit der Massage beginne, sagt sie plötzlich:”Das ist sehr schön!“ und nach einer kurzen Pause:
“Also, ich finde ja meinen Hintern zu dick! Was meinen Sie denn dazu? Sie können ihn ja gerade sehen….”
(Ich wohnte zwei Jahre lang mit meiner dementen Oma in einer Haushälfte,- abstruse Wendungen in Gesprächen, plötzlich aufspringende Denkschubladen , Dialogschablonen und Dialogauslöser sind mir daher noch sehr gut in Erinnerung geblieben….)
Grinsend blicke ich die Tochter an, die rollt mit den Augen und seufzt: “Oh, Mutti!”
“Was denn?! Mein Hintern war schon immer zu dick! Ich finde ihn furchtbar! Er passt gar nicht zu meinem restlichen Körper!”
“Äh, also, ich finde ihn ja total großartig, Ihren Hintern! Der ist genauso, wie er sein soll!”, sage ich breit grinsend.
“Hast Du das gehört?!”, fragt die alte Dame ihre Tochter, ”sie sagt, mein Hintern sei schön!”
“Äh…also”, sage ich.
“Oh, Mutti!” sagt die Tochter grinsend.
Ich unterdrücke ein Lachen.
Minuten später:”Das ist ja so angenehm!”, sagt die alte Dame,” aber, ist Ihnen eigentlich schon mein Hintern aufgefallen?! Also, ich finde ihn ja zu dick!”
Die Tochter schaut mich an, wir beide grinsen.
“Mutti, das sagtest du schon.”
“Ach, wissen Sie, so ein Hintern muß auch ausgeprägt sein, das ist ein Zeichen für Fruchtbarkeit!”, sage ich.
“Nein! WIRKLICH?!” ruft die alte Dame,” DAS wußte ich nicht. Hast Du das gehört?! Aber DER Zug ist bei mir ja abgefahren! DAS brauche ich nicht mehr.
Da könnte er ja jetzt eigentlich kleiner werden…..”
„Sie meinen, so wie Schrumpfhoden bei den Männern?“, frage ich gespielt neugierig.
Ein herzhaftes Giggeln ertönt von der Liege und reißt mich mit sich.
Minuten später:”Herrlich! Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, daß mein Oberkörper viel zu lang ist? Meine Beine sind dagegen kurze Stumpen—- und erst dieser Hintern!! Mein Hintern ist viel zu groß! Gucken Sie doch mal!”
Die Tochter seufzt: „Ach, Mutti.“
”Typen stehen auf ausgeprägte Popos. Damit können Sie im Seniorenheim echt noch Kerle abgreifen! Geil, wa?”, sage ich.
Ein klingendes, helles Kichern dringt aus dem Kopfloch:”Ehrlich? Aber da habe ich doch gar kein Interesse mehr dran. Die sollen mir bloß weg bleiben!”
“Na, Sie müssen ja auch nicht, wenn Sie nicht wollen. Aber Sie sollten wissen, daß Sie noch eine echt scharfe Schnitte sind”, sage ich im Brustton der Überzeugung.
Das Kichern der alten Dame wird lauter, man spürt, daß es von Herzen kommt,- es ist fürchterlich ansteckend.
Die alte Dame kichert im Liegen, ich kichere im Stehen, ihre Tochter kichert im Sitzen – wir kichern im Trio um die Wette bis mir die Tränen in den Augen stehen und mein Herz voller Dankbarkeit über diesen wundervollen Moment überquillt.
Ich massiere weiter.
Minuten später ertönt es :”Wissen Sie, ich finde mein Hintern ist viel zu dick! Ist Ihnen das schon aufgefallen?”
Ich halte den drohenden Lachanfall zurück, daher laufen mir die Tränen die Wangen herunter.
Ich grunze hilflos.
Die Tochter hält resigniert die Hand vor die Augen und murmelt:”Ach, Mutti!”
Sie verläßt den Raum, um die Toilette zu besuchen. In stummem Einverständnis nicken wir beide uns zu. Sie braucht eine Pause, und ich kann sie sehr gut verstehen.
Mein Lachkrampf verebbt.
“Ihr Hintern ist echt in Ordnung. Vielleicht haben Sie nur den falschen Schlüppi an,- manche tragen fürchterlich auf. Vielleicht haben Sie ihr Leben lang ja sogar falsche Schlüppis getragen!!”, mutmaße ich.
“Das habe ich ja noch nie gehört….ach, das glaube ich auch nicht!”
“Vielleicht wäre ein Stringtanga ja besser!”, sage ich und grinse.
“So ein Bändeldings zwischen den Pobacken?! Iiih!”, ruft die alte Dame und wieder kichert sie und dann lacht sie aus vollem Halse, ein helles, freudiges Kinderlachen.
Und dann gibt es kein Halten mehr, wir beide lachen bis mir die Tränen die Wangen herunterlaufen.
Natürlich wiederholt sich das Thema: “Bauch, Beine, Po” sobald sich ein passendes Stichwort für sie ergibt.
Immer wieder reagiere ich anders, oft endet die Sequenz damit, daß wir aus vollem Herzen lachen.
Als die alte Dame schließlich liebevoll wieder angezogen wird, sagt sie:“Also, wissen Sie…mein Oberkörper der ist viel zu lang, meine Beine sind viel zu kurz, mein Hintern ist zu dick, aber am allerschlimmste ist dieser Bauch! Schauen Sie mal! Ich weiß gar nicht, wo der so plötzlich herkommt….!“
Ich unterdrücke einen Lachkrampf und sage:“Das liegt an der Hose…..Hosen mit Gummizug sind immer so…“
„Nein, wirklich?! Hast Du gehört?! Es ist die Hose! Haben Sie hier einen Spiegel?“
An diesem Tag lerne ich zwei wunderbare Menschen kennen.
Eine liebevolle gestresste Tochter, die ihrer Mama etwas Gutes tun wollte
und eine Mama, durch die ich mit der Krankheit meiner Oma endlich Frieden schließen konnte.
Ich fühle Demut und Dankbarkeit als ich den beiden zum Abschied winke.
Den Verlauf der Demenz als Angehöriger mitzuerleben, ist hart.
Man sieht, wie ein ursprünglich starker, geliebter Mensch sich verändert.
Er ist plötzlich nicht mehr der, der er einmal war.
Und es dauert, bis man wirklich versteht, daß der Prozess des Verfalls unumkehrbar ist.
Es tut äußerst weh, den geistigen und auch körperlichen Zerfall mit anschauen zu müssen ohne wirklich Etwas dagegen unternehmen zu können.
Und es geht an die nervliche Substanz………..
An diesem Tag spüre ich auch wieder einmal wie dankbar ich für meinen Beruf bin, und für das Vertrauen der Menschen, die sich in meine Hände begeben.
Begegnungen in dem geschützten Raum der Massage besitzen eine Tiefe und eine Herzensqualität, die man heutzutage nur noch in wenigen Berufen oder dem alltäglichen Miteinander erleben darf.
Diese echten, liebevollen Momente machen das Leben lebenswert.
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